Die Lesewahrnehmung und ich
Wessen Stimme ist das?
Sandra hat auf Booknapping.de über ihre Lesewahrnehmung berichtet. Für jeden von uns ist die eigene Lesewahrnehmung so natürlich und normal, dass wir davon ausgehen, dass alle identische Wahrnehmungen haben. Das startet mit der Stimme im Kopf. Jetzt, während ich tippe, diktiert mir eine Stimme im Kopf diesen Text vor. Welche Stimme? In meinem Fall ist meine Denkstimme eine sehr ruhige und eher dunklere Version meiner Stimme. Die Stimme, die ich vielleicht gerne hätte. Nicht die Stimme aus dem Podcast, die immer so abgehackt klingt und manchmal dazu neigt, etwas schriller zu werden. Mehr die sympathische Stimme, die jeder am Telefon hören möchte.
Lesen lernen
Ich höre mich also ständig in der Version meiner Stimme, die ich gerne hätte. Wie ist es aber beim Lesen? Wie die meisten habe auch ich lesen gelernt, indem ich die Worte Buchstabe für Buchstabe und später Silbe für Silbe mitsprechen sollte. Das hat bei mir kaum etwas gebracht, denn die Stimme in meinem Kopf konnte nichts flüssig lesen. Von flüssig vorlesen will ich gar nicht erst anfangen, es ist ein Ding der Unmöglichkeit. Tatsächlich ist Vorlesen so etwas wie mein Nemesis, der ich mich aber sehr gerne stellen würde.
In Ich und die Comics habe ich schon mal berichtet, dass ich nicht als Leseratte geboren wurde. In der dritten Klasse stammelte meine innere Stimme immer noch beim Lesen vor sich hin und in der vierten landete ich in einem Förderkurs. Schreibmaschineschreiben sollte mir bei der Rechtschreibung helfen, dabei war Lesen mein Problem. Außerdem habe ich zu Hause ständig auf der Schreibmaschine geschrieben. Nach einem Halbjahr war ich wieder raus, weil ich ja gut auf der Schreibmaschine schreiben konnte. Die Stimme stammelte sich aber weiter Texte nur grob zurecht.
Stimmen im Kopf
Als Teenager habe ich dann Comics für mich entdeckt. Kurze Sätze und wenige Worte konnte die Stimme in meinem Kopf meistern. Nein, nicht diese Stimme. Ich habe X-Men Comics gelesen und die Stimme war gar nicht meine, sondern die der Figuren aus dem 80er Jahre Cartoon. Lobo klang wie eine irre Variante meines damaligen Freundes, über den ich Lobo erst kennengelernt hatte. Inzwischen hat sich meine Lesewahrnehmung bei Comics geändert und weicht kaum von der bei Büchern ab, wenn ich Stimmen höre.
Erst im Erwachsenenalter habe ich Texte entdeckt, die mich so fasziniert haben, dass sogar die innere Stimme endlich klare Sätze rausbringen konnte. Hier hat im Übrigen wieder ein aktueller Freund mitgewirkt, in dem er mir einen Scheibenweltroman vorgelesen hat. Seit dem formt sich bei mir zu jedem Buch eine Stimme im Kopf, die für den Inhalt passend ist. Mal männlich, mal weiblich, mal neutral und manchmal verschiedene, wie bei einem Hörspiel. Es kann aber auch dieselbe Stimme sein, die sich verstellt, wie in einem Hörbuch. Kurzgeschichten sind oft dagegen eher monoton in meinem Kopf, da die Personen nicht so weit vertieft werden, damit sich eine eigene Stimme entwickelt. Trotzdem lese ich gerne Kurzgeschichten.
Bilder im Kopf
Personen sind bei meiner Lesewahrnehmung auch oft so ein Ding. Werden die Personen detailliert beschrieben, dann formt sich langsam auch ein Bild in meinem Kopf und sie bekommen eine eigene Stimme. Manche haben so viele Details, dass ich es mir einfach nicht mehr vorstellen kann und das Internet nach Fanart befrage. Es passiert, dass im Laufe einer Geschichte neue Eigenschaften an einer Person beschrieben werden, die mein bisheriges Bild von ihr total über den Haufen werfen. Dann verliere ich das Bild im Kopf und es wird plötzlich wieder eine abstrakte Person.
Ähnliches passiert, wenn eine Stimme beschrieben wird, die so gar nicht in Einklang steht mit der bisherigen von meinem Kopf erzeugten Stimme. Plötzlich wechselt die Stimme heillos zwischen dem Sprecher, der bisherigen Stimme und einer neuen Variante hin und her. Sowas kann mich beim Lesen tatsächlich komplett irre machen und es kann dauern, bis ich die Person und Stimme wieder in Einklang bringe.
Nicht nur Personen werden in meinem Kopf geformt auch Orte. Besonders Orte, die häufig wiederkehren oder sehr prägnant beschrieben werden. Ich sehe bestimmt Ausschnitte des Benden Weyr aus der Pern-Reihe sehr genau. Viele Beschreibungen von Naturlandschaften bringt mein Gehirn sofort mit den neuseeländischen Landschaften aus dem Herrn der Ringe in Verbindung. Warum auch immer habe ich vom alten versteckten Tor von Kaer Morhen aus den Hexer-Büchern ein genaues Bild im Kopf. Nur von diesem einen Schauplatz. Obwohl ich die Witcher Spiele und die Serie kenne, ist übrigens mein Bild von Gerald mit keinem identisch.
Die innere Stimme töten
Nach all den Jahren des Lesens bin ich weiterhin sehr langsam, was das Lesen angeht. Für mein Studium war das eine Qual und bevor ich meine passenden Wege, wie bei Das Lesen und ich beschrieben, gefunden habe, habe ich einen Speed-Reading-Kurs besucht. Querlesen war für mich einfach ein komplettes Ding der Unmöglichkeit.
In dem Speed-Reading-Kurs wurde erklärt, dass wir unsere Lesestimme ausschalten müssen, um schneller zu lesen und dieses schnelle Lesen entsprechend üben müssten. Es kann dabei aber eigentlich keine Rede mehr von Lesen sein. Lesen tun wir Worte, die wir begreifen müssen, Buchstabe für Buchstabe, Silbe für Silbe, hier wird aber vorausgesetzt, dass unser Gehirn die Worte eines Textes bereits kennt. Wir lesen nicht mehr, sondern erfassen nur noch. Ein kurzer Blick und das Gehirn hat die Informationen schneller erfasst, als unsere innere Stimme sie uns erzählen kann. Ihr müsst in gewisser Weise lernen die Lesewahrnehmung ab- und anzuschalten.
Was ich kann und was ich will
Durch den Kurs habe ich zwei Dinge gelernt. Erstens, ja mein Gehirn kann die Texte erfassen und mein Textverständnis ist nicht mehr das aus der dritten Klasse, selbst wenn ich meine Augen nur habe über einen Text gleiten lassen. Zweitens, nachdem ich die Stimme endlich zum Verstummen gebracht habe, habe ich sie vermisst. So wollte ich keine Bücher lesen. Fachtexte kann ich schon mal mit erlernten Techniken lesen, aber es macht mir einfach keinen Spaß, ohne meine Stimme oder Stimmen die eine Geschichte in meinem Kopf zum Leben erwecken.
Total interessant. Danke für den Beitrag.
Ich habe nur Stimmen und Bilder im Kopf, wenn mir das Buch richtig gut gefällt. Manchmal “flippe” ich sogar ins Buch (das ist ein Begriff aus einem King-Buch, glaube ich – vielleicht eins mit Straub & King? Ich weiß es nicht mehr.)
Meine Figuren sehen fast immer anders aus als beschrieben und ich erschrecke mich dann immer, wenn die rothaarige plötzlich blond ist
Hallo,
was genau heißt es „ins Buch zuflippen“? Ich kann mir zwar etwas drunter vorstellen aber wer weiß, ob ich damit richtig liege.
Rein springen, miterleben. Sowas.
Ich glaube, „Das schwarze Haus“ von King/Straub oder der Vorgänger von dem Buch hat den Begriff für mich geprägt.