Ü30 Studentengejammer
„Das Studium hättest du auch schon längst fertig haben können“
„Das ist ja toll, dass du in deinem Alter doch noch studierst“
„Das ist bestimmt ganz schön anstrengend neben der Arbeit“
„Sind ja nur 3 Jahre“
Diese Sätze höre ich immer mal wieder, wenn ich erzähle, dass ich (Mitte 30) neben der Arbeit angefangen habe zu studieren. Eine Person hat schon alle diese Sätze gesagt. Kommt ihr drauf? Es ist meine Mutter. Ergänzt um ein „Du wolltest ja lieber eine Ausbildung machen“. Sie unterstützen und kritisieren einen. Mütter halt.
Fangen wir mal an. Mit 16 war ich mit der Realschule durch. Für das Gymnasium hat es damals nicht gereicht und zu dem Zeitpunkt fühlte ich mich zum ersten Mal in der Lage, überhaupt in Ruhe zu lernen. Mit 16 in die Lehre fand meine Mutter zu früh. Ich auch, also nahm ich ihren Vorschlag, zur zweijährigen Höheren Handelsschule zu gehen, an. Ich wusste noch nicht, was ich wollte. Nach den zwei Jahren habe ich aber zwei Dinge gewusst:
1. der DV Lehrer hat weniger Ahnung von PCs als ich.
2. Ich will in die Praxis und Geld verdienen.
Mit dem theoretischen Teil der Fachhochschulreife wählte ich eine Ausbildung, die den praktischen Teil ergänzt. Kann ja nicht schaden, wenn man die Fachhochschulreife hat. Ich begann meine Ausbildung zur Informatikkauffrau. Hier greift nun „Du wolltest ja lieber eine Ausbildung machen“. An diesem Punkt in meinem Leben konnte ich mich also nicht für ein Studium entscheiden und es wäre auch nicht das Richtige gewesen. Das Studium hätte ich sicherlich abgebrochen.
Meine Ausbildung lief gut. Ich wurde übernommen. Mein Einstiegsgehalt war ok. Ich hatte Verantwortung und irgendwann schneite auch Sandra als Kollegin herein. Wir hatten Spaß. Die Firma wurde verkauft, Sandra orientierte sich neu. Ich blieb bis zum Ende und hatte zum Schluss einen neuen Job. Leider nicht in meiner Spezialisierung, sondern in einem anderen IT-Feld. Gehalt konstant bis steigend, aber ein sicherer Arbeitsplatz. Die Spezialstelle wäre nur mit großem Pendelweg und Unsicherheit möglich gewesen, dafür wäre das Gehalt aber deutlich gestiegen. Wäre hier Studium statt neuer Job möglich gewesen? Single, Wohnung, 3 Katzen. Studium und jobben kam hier nicht für mich in Frage.
Der neue Job lief gut, aber ich musste irgendwann einsehen, dass es dort ohne Studium nicht weiter gehen wird. Nur wenige haben das Glück gehabt, dass es auch ohne Studium aufwärts ging. Will ich denn aufwärts oder finde ich es ok so wie es ist? „Das Studium hättest du auch schon längst fertig haben können“ vielleicht, aber ich war zufrieden. Also machte ich einfach weiter meinen Job. Nur schlich sich hier und da mal eine Unzufriedenheit ein oder die Ambition kratzte im Hinterkopf. Lernen muss man in der IT sowieso ständig Neues. Als ich mich irgendwann immer wieder mal über den Job geärgert habe, fielen mir Sandras Worte ein: Wenn dein Job so schlimm ist, dann meckere nicht, sondern such dir einen neuen. So schlimm war es nun nicht, aber ich sah, dass Handlungsbedarf bestand. Auf das Glück hoffen oder selber etwas tun?
„Das ist ja toll, dass du in deinem Alter doch noch studierst“. „Das ist bestimmt ganz schön anstrengend neben der Arbeit“. Das hat mich erstmal abgeschreckt. Immer wieder, obwohl ich auch immer wieder nach Möglichkeiten für ein Studium gesucht habe. Irgendwann war ich dann erneut an dem Punkt: Meckern muss man sich verdienen. Wenn ich nichts ändern will, brauche ich mich nicht beschweren. Wenn ich sage, „hätte ich mal ein Bachelor“, muss ich mir das verdienen. Meckern darf ich also erst, wenn ich studiere. Wenn ich das Studium nicht packen sollte, weiß ich auch, dass ich nichts zu beklagen habe und einfach bin, wo ich bin.
Die Doppelbelastung fing also an. Vollzeitjob und Studium mit Ü30. „Sind ja nur 3 Jahre“ richtig, wenn man neben dem Vollzeitjob auch Vollzeit studiert. Jetzt mal realistisch sein mit einem Selbst und die Wünsche dagegenhalten. Was geht wirklich? Vollzeitstudium geht für mich nicht. Also nicht nur 3 Jahre. Realistischer sind in meinem Fall 4 bist 4,5 Jahre. Teilweise gehe ich da schon auf dem Zahnfleisch. Nach drei Semestern bin ich ein bisschen stolz, dass ich nicht zu denen gehöre, die doch im Semester ein Fach hinwerfen mussten. Leidet das Privatleben? Natürlich. Leiden die Noten? Ja, die Prüfungen können immer besser sein, wenn man sich nur auf ein Fach vorbereiten muss.
„Das Studium hättest du auch schon längst fertig haben können“ – Nein. Für mich wurde es erst ein bis eineinhalb Jahre bevor ich das Studium begonnen habe wirklich klar, dass ich das Studium will. In meiner Spezialisierung wäre es auch nur ein netter Bonus gewesen. Wenn man aber etwas Neues oder mehr will als man hat, dann kann es passieren, dass man auch andere Ansprüche erfüllen muss. Wenn das Papier mehr zählt als das, was man kann. Ärgern oder das Papier holen.
Ich hätte mich weiter ärgern können, resignieren oder was ganz anderes machen können. Aber ich war erst vor etwa drei Jahren an dem Punkt. Vorher wäre ein Studium Quatsch für mich gewesen. Es hätte also nicht fertig sein können, denn warum etwas machen, was ich zu dem Zeitpunkt weder gebraucht noch gewollt hätte. Ob der Bachelor wirklich etwas ändern wird, muss sich noch zeigen. So in 2,5 bis 3 Jahren werde ich es vielleicht wissen. Solange ich es aber durchziehe, kann ich mit gutem Gewissen meckern und weiß, dass ich den für mich richtigen Zeitpunkt gewählt habe.
Weniger Kritik und mehr Support bitte. Auch wenn es nur das Stressgeplärre anhören ist. Es sind meine selbstgemachten Leiden. Es ist egal, dass ich es erst jetzt mache. Theoretisches Lernen war nie mein Ding. Ich hätte immer geplärrt, egal zu welchem Zeitpunkt in meinem Leben. Nun weiß ich aber wenigstens, wofür ich es mir antue.
„2. Ich will in die Praxis und Geld verdienen.“
Das war nach dem Abi mein Gedanke. Bei mir war es also umgekehrt: Warum machst du eine Ausbildung? Warum studierst du nicht? Da hättest auch kein Abi gebraucht!
Sätze, die ich zu genüge kenne…
Damals hatte ich einfach keine Lust zu studieren. Wollte weg vom Tisch und in die Praxis. Stets im Hinterkopf, dass ich später imme rnoch studieren könnte. Inzwischen ist es soweit. Ich, 31, hege nun den Gedanken zu studieren. Neben dem Job. Aber da ich mich da jetzt gerade neu orientiere, muss das Studium etwas warten.
btw
In einem alten Betrieb gab es einen Herrn Ü50, der auch studierte, nebenbei. Er frischte Hobbys und Leidenschaften auf diesem Weg auf, nicht unbedingt also für seinen eigentlichen Beruf, Nein – er wollte bzw will sein Gehirn auf Trapp halten und genau dafür ist er mein heimliches Vorbild geworden 😉
Ich sehe es mit Erstaunen und Respekt, wenn jmd nebem dem vollen Alltag, noch ein Studium reinpflanzt! Also sei stolz auf dich :3
Hallo Christin,
danke 🙂 Ich bin im Studium auch bei weitem nicht die Älteste aber der Großteil ist jünger als ist. Im Studium selbst fühle ich mich wohl, dort ist es egal. Über 90% Arbeiten und machen das Studium nebenbei. Nur wenige machen es in Vollzeit und die allerwenigsten kommen frische vom Abi. Im Berufsalltag und im Freundeskreis studieren ebenfalls so einige neben dem Job. Das Verständnis ist also schon sehr hoch. Nur leider kommen die anderen Kommentare halt auch. Und manchmal wurmen die mich tagelang so sehr, dass ich drüber schreiben muss.
Liebe Grüße
Ariane
Als Dozent muss ich sagen, dass ich in der Regel ganz froh bin, wenn auch ein paar „ältere“ Damen und Herren in den Veranstaltungen sitzen. Das tut der Qualität oft ziemlich gut.
Hallo Ariane,
ich muss dir meinen tiefsten Respekt aussprechen. Ich habe direkt nach dem Abi Informatik studiert, sogar noch im Diplom. Damals waren die mathematischen und physikalischen Grundlagen schon nicht leicht und ich hab mich immer gefragt, wie schwer es eigentlich sein muss, wenn man schon seit Jahren raus aus der Uni ist. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich wünsche dir noch viel Erfolg.
Liebe Grüße
Sven
Bin übrigens verspätet über #litnetzwerk auf dich aufmerksam geworden.
Hallo Sven,
vielen Dank. Noch mal den Einstig zu bekommen ist teilweise gar nicht so einfach. Andere Sachen sind wieder recht einfach, da man ja nun auch schon Jahre in dem Bereich arbeitet. Schön wäre, wenn alles zum Zweiten gehören würde.
Liebe Grüße
Ariane
Hast du eigentlich im Job schon programmiert? Das ist das was mir hauptsächlich vor und während des Studiums gefehlt hat. Es wurde teilweise vorausgesetzt, dass man programmieren kann und wir mussten uns das dann selbst beibringen.
Ich habe dieses Semester Grundlagen der Programmierung 2 überstanden. Überstanden, weil ich zwar auch vorher schon Grundverständnis dafür hatte und Anpassungen machen konnte aber nicht wirklich programmieren kann. Programmieren und ich werden wohl auch nie Freunde werden.
Hey,
einerseits kommt mir das vertaut vor, weil der Werdegang teilweise gleich ist, anderseits auch wieder nicht. 😉
Die HöHa habe ich auch besucht auch mehr oder weniger aus dem Grund, weil ich nach der Realschule nichts im Informatikbereich gefunden habe. Trotz eines recht guten Abschlusses sah es danach nicht anders aus und somit hatte ich dann die Wahl zwischen Industriekaufmann und Bankkaufmann.
Ich war dann 7 Jahre als Industriekaufmann tätig und konnte als Keyuser für SAP in den Informatikbereich reinschnuppern. Nachdem ich Lunte gerochen hatte, sollte ich den Bereich dann aber wieder zwecks Orientierung auf Vertriebstätigkeit aufgeben. Als ich mir dann die Frage gestellt habe, ob ich das 40+ Jahre machen will habe ich mit 25 gekündigt und das Informatikstudium begonnen. Vollzeit und ohne Rückfahrschein. Das hat deutlich zur Motivation beigetragen. 😉 Ich wollte auch die Erfahrung „Student sein“ – also ohne Job und Abendkurse machen. Das bisschen Geld was ich mir in den 7 Jahren erarbeitet hatte war nach der Aktion natürlich futsch + Bafög Kredit. Ich würde es aber immer wieder so machen.
Mein Ziel war: Vor 30 fertig sein. Als ich das dann kurz vor Ende des Studiums gegenüber den Kommilitonen angesprochen habe, waren die dann total überrascht wie „alt“ ich schon bin. Das ziel habe ich übrigens erreicht – sogar relativ locker. Bei mir war es noch ein Diplom (du siehst, nun bin ich also wirklich alt ^^)
Insofern: Alles relativ.
LG
Torsten
So alt… Bin ich aber auch
Bei mir sind aber seit dem Studium schon wieder 10 Jahre rum. 😉